Foto: Peter Rigaud © Shotview Artists
Bénédicte Savoy
Preisträgerin 2022
Festrede: Dr. Mahret Ifeoma Kupka
Laudatio: Stefan Koldehoff
In diesem Jahr wurde zum 31. Mal der Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ verliehen. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung ging an die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. „Wir werden den Preis einer Visionärin übergeben, die ins Herz der Kolonialgeschichte vorgestoßen ist und gleichzeitig Wege aufgezeigt hat, kulturelle Beziehungen auf Augenhöhe zu leben“, sagte Bernd Leifeld, Vorsitzender des Vorstandes der Gesellschaft der Freunde und Förderer dieses Preises anlässlich der Pressekonferenz. Bénédicte Savoy ist Leiterin des Fachgebiets Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin; das Time Magazine zählte sie zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2021 weltweit. Vorstand und Kuratorium würdigen, dass sie wissenschaftliche Forschung und kulturpolitisches Handeln verbindet.
Bénédicte Savoy, die in Berlin lehrt, hatte dem Humboldt-Forum 2017 einen Mangel an Provenienzforschung, Transparenz und Autonomie vorgeworfen und war aus dem Expertenbeirat des Forums ausgetreten. Die von ihr ausgelöste öffentliche Diskussion über koloniale Raubkunst schlug hohe Wellen – und sie zeigt erste Wirkung: Frankreich gibt 26 Schätze an die Republik Benin zurück und die Bundesrepublik will in diesem Jahr Bronzen nach Nigeria restituieren. Das könne aber nur der Anfang sein, denn es gehe, so die Preisträgerin, bei der Restitutionsdebatte um eine „Haltung zur Gegenwart und zur Zukunft, nicht um eine Abrechnung mit der Vergangenheit“. Eine wichtige Voraussetzung dafür sei, dass Museen ihre „falsche Ehrlichkeit“ beenden und volle Transparenz schaffen.
Bénédicte Savoy habe gegen erhebliche Widerstände den Finger in die Wunde des oft verschwiegenen oder verharmlosten Kunstraubs in der Kolonialzeit gelegt und als Wissenschaftlerin eine Diskussion geprägt, die den Umgang der Museen, auch der in Deutschland, mit ihren Beständen aus der Kolonialzeit verändern werde, so Leifeld. Sie bringe damit ein überfälliges Umdenken im Umgang mit den eigenen kolonialen Geschichten maßgeblich voran. Geraubte Kulturgüter, die in einem Museum stehen, seien weit mehr als ein geraubtes Objekt. An und mit ihnen konnten sich Menschen zusammenfinden und weiterentwickeln. Durch koloniale Beutezüge wurde ihnen die Möglichkeit entzogen, ihre Kulturen zu leben. Bénédicte Savoy setzt sich mit großem Engagement dafür ein, dass diese Kulturen nicht nur anerkannt, sondern mit den Objekten sichtbar gemacht werden.
Vorstand und Kuratorium des Kasseler Bürgerpreises würdigen Bénédicte Savoy für ihren kulturpolitischen Aufbruch. Gleichzeitig sehen sie als Bürger:innen Kassels die Verpflichtung, die Restitution von Raubkunst aus Kasseler Museen aufmerksam zu begleiten. Sie erwarten gespannt, wie bei der documenta fifteen Kunstwerke in ihren kulturellen Kontexten zu erleben sein werden.
Der Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ wurde am Sonntag, den 9. Oktober 2022 im Opernhaus des Staatstheaters Kassel an Bénédicte Savoy übergeben.
Fotos der Preisverleihung
Prof. Dr. Wilfried Sommer, Bénédicte Savoy, Bernd Leifeld und Barbara Ettinger-Brinckmann bei der Preisübergabe Foto: © Harry Soremski
Bénédicte Savoy, Foto: © Harry Soremski
Der Musiker Mansa, Foto: © Harry Soremski
Pressespiegel und weiterführende Artikel
Pressemeldungen und Artikel
Reden zur Preisverleihung
Guten Tag, ich begrüße Sie alle herzlich und freue mich sehr, hier heute zur Verleihung des Kasseler Bürgerpreises an Dich, liebe Bénédicte, sprechen zu dürfen. Für diese Festrede wähle ich einen eher ungewöhnlichen Einstieg. Ich möchte gerne eine Anekdote und eine Beobachtung mit Ihnen teilen. Beide zeigen für mich beispielhaft, warum Bénédicte Savoys Arbeit so wichtig ist. Und damit meine ich nicht allein, was sie tut, sondern auch, wie sie es tut.
Ich begegnete Bénédicte Savoy zum ersten Mal persönlich vor fast genau drei Jahren im ICE von Frankfurt nach Köln. Am Abend zuvor hatte sie im Künstler*innenhaus Mousonturm in Frankfurt zum Thema Unlearning Europe gesprochen. [1] Ich wusste, dass sie am Tag darauf in Köln im Rautenstrauch-Joest Museum auf einer Veranstaltung, zu der ich auch wollte, sprechen würde. Ich nahm mir ein Herz und schrieb eine E-Mail, unbekannterweise, und fragte, ob sie mir vielleicht ihren Zug verraten würde, damit wir uns im Bordbistro bei einem Kaffee kennenlernen und ich ihr von meinen aktuellen Projekten erzählen könnte. Sie antwortete, sehr freundlich, ich hatte gar nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, verriet mir den Zug und so trafen wir uns am Gleis im Frankfurter Hauptbahnhof.
Nicht nur war das Gespräch wunderbar,sondern auch ihre Art, mich in Köln ihrem Netzwerk vorzustellen. Darum hatte ich sie nicht gebeten, sie tat es einfach so, ganz selbstverständlich und natürlich.
Bei der Veranstaltung im Rautenstrauch-Joest wurde das International Inventories Program [2] vorgestellt, ein Kooperationsprojekt zwischen dem Rautenstrauch-Joest-Museum, dem kenianischen Nationalmuseum, den Künstlerkollektiven TheNest aus Nairobi und SHIFT aus Deutschland und Frankreich sowie dem Goethe-Institut Kenia. Bei dem Programm ging es um die Erstellung eines Inventars kenianischer Kulturgüter in Museen und Institutionen weltweit. 2020und 2021 wurden die wissenschaftlichen und künstlerischen Ergebnisse dieses Dialogs im Rahmen der Ausstellung Invisible Inventories[3]in Nairobi, Frankfurt und Köln präsentiert.
Dieser Tag in Köln war unheimlich wichtig für mich und legte den Grundstein für weitere Projekte und Kooperationen. Ich fuhr am Abend beseelt zurück nach Frankfurt. Der Kontakt blieb,wir sollten uns immer wieder begegnen und als dann im vergangenen Jahr Bénédictes Buch Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialenNiederlage [4] erschien, fand ich in meinem Briefkasten ein Exemplar mit der Notiz: „Liebe Mahret, ich erinnere mich sooo gerne an unsere Bahnfahrt…“.
Das war die erste Anekdote und ich erzählte sie, weil das, was in Köln zwischen Bénédicte und mir passierte, und weiterhin passiert für mich Ausdruck von Verbindlichkeit und tiefem Interesse ist. Ich weiß, wie schwierig es ist, Kontakte zu pflegen, ein Netzwerk lebendig zu halten, offen zu bleiben für Themen, die für das eigene Wirken nicht akut sind, aber wichtig werden könnten für mögliche Synergien und Kooperationen. Bénédicte Savoy nimmt sich diese Zeit und sie macht das mit ehrlicher Freude. Bei all den Dingen, die passieren, in all ihrer Komplexität und der Kraft und Energie, die sie uns kosten, scheint sie zu sagen: „Ich sehe Dich!“
Und natürlich sieht sie nicht nur mich, sondern all jene, die etwas versuchen, die ausprobieren, wie ein gemeinsames Anders funktionieren könnte, was wir so dringend brauchen, in diesen Zeiten. Aber sie sieht auch jene, die zu oft ungesehen bleiben.
Die zweite Anekdote oder vielmehr Beobachtung bezieht sich auf die Dankesrede, die Bénédicte Savoy am 21.September in Berlin hielt, nachdem ihr der Kulturpolitikpreis des Deutschen Kulturrats [5] verliehen wurde – es ist vielleicht nicht ganz elegant auf der einen Preisverleihung von einer anderen Preisverleihung zu sprechen, doch die Beobachtung ist zu wichtig und – am Rande bemerkt – hat Bénédicte diese Preise ohnehin alle verdient, es ist ja kein Geheimnis.
Bei aller Feierlichkeit in dem auffallend weißen Setting gelang es Bénédicte Savoy auf sehr elegante und nachdrückliche Weise auch jene mit auf die Bühne zu holen, die zu oft fehlen,die aber auch Teil der Debatte um Kulturraub und Restitution sind und unbedingt sein müssen: Am 8. August wird in Dortmund der 16-jährige geflüchtete Senegalese Mohamed Lamine Dramé, der sich in einer psychischen Krise befand und suizidgefährdet war, mit fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole von einem Polizisten getötet. [6] Bénédicte spricht davon auf der Bühne im Alexander von Humboldt Saal der Berliner Staatsbibliothek und sie weist darauf hin, dass kulturpolitisches Handeln unbedingt auch anti-rassistisches Handeln ist – ich hoffe ich fasse das sinngemäß richtig zusammen, liebe Bénédicte. Sie hofft, dass dieses Handeln auch zu einer Aufarbeitung von Rassismus innerhalb von Polizeistrukturen beiträgt. Kulturpolitik muss so weit gefasst werden, weil Kultur so weit reicht.
Diese Tat ist kein Einzelfall,vielmehr ein Fall unter vielen sogenannten Einzelfällen, ein wiederkehrendes Versagen deutscher Sicherheitskräfte. Die Fälle häufen sich. Allein im August dieses Jahres wurden innerhalb von sechs Tagen drei weitere Menschen bei Polizeieinsätzen getötet. Ihre Tode reihen sich ein in eine Abfolge von Toden. Die Soziologin Vanessa E. Thompson und der Philosoph Daniel Loick haben unlängst in einem Gastbeitrag auf ZEITONLINE gefragt, warum Fälle von tödlicher Polizeigewalt inDeutschland nicht offen problematisiert werden. Sie fragen – zurecht:
Warum werden sie nicht in der Tagesschau thematisiert oder bei Anne Will diskutiert? Warum kommt es nicht zu Massendemonstrationen, Riots und Aktionen des zivilen Ungehorsams wie wir sie beispielsweise aus dem Kontext der Black Lives Matter Bewegung kennen? Warum kennen viele die Namen von George Floyd, BreonnaTaylor, Trayvon Martin, Eric Garner und Mike Brown, aber nicht die von Achidi John, Christy Schwundeck, N'deye Mareame Sarr oder Mohamed Dramé? [7]
Die Fälle in Deutschland unterscheiden sich voneinander. Aber sie haben gemeinsam, dass alle diese Opfer von Polizeigewalt gesellschaftlich marginalisierte Menschen waren: Arme, Schwarze Menschen, Migrant*innen und geflüchtete Personen. Die Fälle häufen sich, so dass der Gedanke aufkommen mag, dass es sich vielleicht gar nicht um ein Versagen handelt, sondern vielmehr um eine Form der Grenzsicherung. Um die Sicherung einerGrenze zwischen denen, die zur Gesellschaft als zugehörig empfunden werden und jenen, auf die das nicht zutrifft. Diese Grenzsicherung vollzieht sich im besonders brutalen Vorgehen gegen gesellschaftlich marginalisierte Personengruppen. Sie vollzieht sich an den physischen Grenzen Europas, sie vollzieht sich in europäischen Visapolitiken, sie vollzieht sich aber auch in alltäglichen Praktiken, wie dem Racial Profiling und in Fragen wie, wo kommst Du WIRKLICH her? – mit dem Unterton, denn von hier kannst Du ja offensichtlich nicht sein.
Bénédicte Savoy nutzt ihre Bühne, um auf diese Missstände zu verweisen und um deutlich zu machen, dass sie Teil der Debatte um Kunstraub und Restitution sind. Während die Dinge der vermeintlich Anderen als Teil der universalen Menschheitsgeschichte verhandelt werden, zählen die vermeintlich Anderen und ihre Geschichten, Perspektiven, Ideen und Utopien selbst noch längst nicht dazu. Sie zählten damals nicht und sie zählen heute noch immer nicht. Sondern werden viel eher gewaltvoll verdrängt. „Restitution, Dekolonisierung, die Frage des Rassismus und der sozialen Gerechtigkeit gehen Hand in Hand“[8],schreibt Bénédicte Savoy auch im Vorwort ihres Restitutionskrimis – leider alles andere als Fiktion – Afrikas Kampf um seine Kunst.
Die Grenze verläuft auch in unseren Köpfen, quer durch das, was wir als Wahrheit und Wissen bewerten und vielleicht unter Vernunft fassen würden und dem Anderen – dem Hokuspokus, dem Spirituellen, dem vermeintlich Wilden. Der argentinische Literaturwissenschaftler Walter Mignolo entwickelte 2006 sein Konzept des epistemischen Ungehorsams [9]. Es richtet sich gegen das abendländische Denken als eine Formation von Macht- und Wissensverhältnissen. Der Aufruf zum Ungehorsam ist ein Aufruf zum Widerstand gegen die vielfältigen gewaltvollen Ausschlüsse, die diese Form des Denkens vollzieht. Allerdings ist dieser Widerstand nicht als ein Gegen zu verstehen, sondern als eine Praxis, die über das binäre Denken – z.B. richtig-falsch oder Nord-Süd – hinausgeht. Der Widerstand ist eher als ein Grenzdenken zu sehen, als eine Anerkennung, dass Denken und Wissen nicht an nationalen und kulturellen Grenzen Halt machen, sondern Verbindungen zwischen verschiedenen Kulturen und Nationen herstellen sollen oder vielmehr müssen.
Für Mignolo sind Grenzen immer künstlich, aus der Perspektive der europäischen kolonialen Expansion entstanden. Sie sind epistemische Metapher - geografisch, politisch und subjektiv -, die im Dialog überwunden werden müssen - auf Augenhöhe und gleichberechtigt. Die Voraussetzung ist allerdings, dass wir alle verlernen, was wir wissen - oder zu wissen glauben, um Raum für Wissen zu schaffen, das wiruns noch gar nicht vorstellen können. [10]
Restitution kann beispielsweise auch ein Akt des epistemischen Ungehorsams sein. 1965 entwirft der Dichter und Journalist Paulin Joachim Restitution als Gegenbegriff zu Rassismus und Eurozentrismus. In seinem Leitartikel für Bingo, einer im französischsprachigen Afrika und der afrikanischen Diaspora vielgelesenen Monatszeitschrift, dekonstruiert er die Legitimationsrhetorik der Kolonialmächte als Lügen und Ausflüchte und beschreibt, wie die um 1900 nach Europa verbrachte Kunst aus Afrika wie eine Bluttransfusion auf die europäische Kunst-Avantgarde wirkte. Er beklagt überfüllte Museumsdepots, wo, Zitat:
Bronzen und Holzfiguren aus Afrika in einer herrlichen Nutzlosigkeit gestapelt liegen im gekühlten Universum von Galerien ohne Sonne und Farben, wo sie einen hochfliegenden Monolog führen, den weder Sammler noch Experten je verstanden haben.[11]
Joachim interessiert sich nicht für Abrechnung mit der Vergangenheit, sondern blickt in die Zukunft:
Man hat uns lange als ein Volk ohne Kultur und ohne Vergangenheit dargestellt, wir haben nie etwas erfunden, noch konnten wir je etwas besingen. Die legitime Wiedererlangung unserer schönen Künste könnte dieser historischen Lüge ein Ende setzen […]. [12]
Dass Afrika durch einen Zugang zu seinem materiellen Kulturerbe ein Mehr erlangen würde, muss, denke ich, nicht weiter diskutiert werden. Ein Mehr an Würde, Autonomie, Vergangenheit, Geschichte und Ideen für die Zukunft. Felwine Sarr und Bénédicte Savoy schreiben in Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, ihrem Report, der 2018 im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron entstand:
Der Entzug und Verlust von Kulturgütern betrifft nicht nur die Generationen, die sie ausüben und die sie erleiden. Sie schreiben sich in die lange Dauer der Gesellschaften ein und bedingen das Aufblühen der einen und die Verkümmerung der anderen. [13]
Der Kolonialismus hat Europa und Afrika unwiederbringlich miteinander verwoben. Das ist Entangled History. Die Zeugen sitzen bis heute in europäischen Vitrinen und Depots, wie Geiseln, von denen man vielleicht befürchtet, dass sie sich bei Freilassung bitter rächen werden. Doch wäre diese Sorge nicht auffallend selbstbezüglich? Die Verbindung besteht und wenn sich die Machstrukturen ändern, so verändert sich auch die Dynamik dieser Verbindung. Doch warum immer vom denkbar Schlechtesten ausgehen?
Wenn das Präsidium der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Juli 1974 beim Thema Restitution vor allem die Gefahr einer radikalen Ausleerung der Museen in Deutschland, die Auflösung aller zentralen öffentlichen Sammlungen und damit das Ende eines ganz wesentlichen Teils unseres kulturellen Lebens [14] sah – ich zitiere hier nach Bénédicte Savoy in Afrikas Kampf um seine Kunst – dann geht es dabei nicht um die Sorge vor leeren Räumen, sondern um die Angst vor dem Verlust an Deutungsmacht. Restitution muss aber – so möchte ich argumentieren – unbedingt als Gewinn gesehen werden und nicht nur aus afrikanischer Perspektive. Der Angst kommt man bei, indem man sich ihr hingibt und – paradoxerweise – Deutungsmacht abgibt und sich damit öffnet für die Möglichkeit ganz anderer Wege, von deren Existenz zuvor vielleicht nicht mal geträumt wurde.
Im Vergleich zu den 1970er Jahren sind wir weiter. Es gibt unterzeichnete Rückgabeabsichten. Vereinzelt sind Restitutionen erfolgt. Zahlreiche Kooperationsprojekte, Ausstellungen, Talks und Think Tanks denken bereits mögliche Zukünfte. Doch stimme ich in meinen Beobachtungen mit denen von Bénédicte Savoy unbedingt überein: Die Phantomschmerzen, die außerhalb Europas mit dem Verlust kultureller Güter einhergehen, dauern seit den 60er Jahren an. Sie prägen unsere Gegenwart und werden mit der Zeit immer akuter. [15] Und ich frage: Wie lange wird Afrika warten?
Ich möchte gerne noch eine kleine Geschichte erzählen. Eine meiner Lieblingsgeschichten aus dem großen Restitutions-Geschichten-Fundus. Einige hier kennen sie möglicherweise schon. 1977war Nigeria Gastgeber des FESTAC ’77, des Festival of Arts and Culture, ein internationales panafrikanisches Festival, das zweite seiner Art, das einmal im Jahrzehnt auf dem afrikanischen Kontinent stattfinden sollte, um das afrikanische Erbe in formal postkolonialen Zeiten zu feiern. Die Organisator*innen des Festivals wählten die Maske der Queen Idia, der Mutter von Esigie, dem Obavon Benin, der von 1504 bis 1550 regierte, als Emblem des Festivals – eine Elfenbein-Schnitzarbeit, die sich bis heute im British Museum in London befindet. Die Organisator*innen baten das Museum offiziell um die Rückgabe der Maske. Das British Museum lehnte ab und begründete dies mit Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Maske. Das löste in Nigeria und in der Diaspora Empörung aus. Es wurde in London daraufhin eine Replik der Originalmaske angefertigt, die allerdings von den Organisator*innen abgelehnt wurde. Sie ließen kurzerhand selbst eine Replik anfertigen, die als ebenso künstlerisch beeindruckend, wenn nicht sogar noch beeindruckender, als das Original gelobt wurde. Der Künstler, der die Nachbildung angefertigt hat, ist ein Nachkomme des Künstlers, der die Originalmaske geschaffen hat.[16]
Was die Begebenheit um die Queen Idia Maske für mich so interessant macht, ist das Gedankenspiel, das sie ermöglicht. Was wäre eigentlich, wenn das genau umgekehrte Extrem zum ,befürchteten' – den leeren europäischen Museen – eintreten würde, wenn nämlich gar keine Objekte mehr zurückgefordert werden würden? Weil ihre Bedeutung, ihre spirituelle Energie, ihr Erbe - oder was auch immer mit ihnen verbunden ist - auf andere Weise zugänglich gemacht werden könnten? Oder wenn sogar ganz andere, neue Bedeutungen und Werte geschaffen werden würden? Ein Gedankenspiel, wie gesagt. Die Objekte würden ihr gesamtes symbolisches Kapital verlieren und zu wertlosen, leeren Signifikanten werden. Ist kulturelles Erbe wirklich an Objekte gebunden? Und ich bin mir bewusst, dass ich hier sehr kühne Gedanken äußere. Ich weiß auch nicht, ob das wahr ist. Ich spekuliere. Am Ende ist es wahrscheinlich - wie so oft – so wahr, wie es nicht wahr ist.
Aber wäre dieses Szenario nicht die eigentliche Bedrohung, weil sie europäische Modelle des Sammelns und Archivierens absolut infrage stellen würde? Mich interessiert die Frage, ob sich das Wesentliche in kulturellen Räumen nicht eigentlich im Dazwischen abspielt. Zwischen Dingen und Menschen und zwischen Menschen und Menschen. Letztlich ist das Objekt, das Ding nur ein Vehikel. Der Raum wird zur Kontaktzone. Jetzt steht er offen. Doch während sich vereinzelte Institutionen und Organisationen an ihren jeweiligen Deskolonisierungsprozessen freuen, warten die Beraubten, hören seit Jahrzehnten Erklärungen, Entschuldigungen, Ausflüchte. Die Künstlerin, Autorin und feministische Denkerin Njoki Ngumi schließt diesen Juni ihren Beitrag für Texte zur Kunst mit den Worten: Wir werden nicht ewig verhandeln und das klingt ein wenig wie eine Drohung.
Wir sind es, die zu beraten haben, was aus unserer Heimat wird, und die sich mit unseren Polaritäten hinsichtlich dessen befassen müssen, ob die angestammten Plätze derer, die uns unwiederbringlich Schaden zufügten, je wieder für uns rehabilitiert werden können. […] Wir lachen über ihre Vorstellung, eine gleichberechtigtere Zukunft wäre möglich, ohne dass sie selbst ihre Aufgabe erfüllen. […] Die Vorstellung […], dass wir warten müssen, bis diese innere Reise beendet ist, damit wir uns zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft eventuell als Ebenbürtige begegnen können, ist falsch. Sie berücksichtigt nicht die Reise, auf der ich und meine Leute sich befinden, berücksichtigt nicht all die anderen von uns kartierten Zukünfte und nicht die Vorstellung, dass es so in absehbarer Zeit vielleicht nicht mehr möglich sein wird, uns herbei zu zitieren und zu versammeln, wo immer wir uns in der Welt befinden. Wir werden nicht ewig verhandeln.[17]
Njoki Ngumi ist im Übrigen Teil des Künstler*innenkollektivs THE NEST, das auf der diesjährigen Documenta hier in Kassel mit einer Arbeit vertreten war. Return to Sender. Delivery Details war eine aus zu Würfeln gepressten Altkleidern und Elektroschrott gebaute Installation, in der ein Film zu sehen war, in dem Mitglieder des Kollektivs in Interviewsequenzen die ökologischen und ökonomischen Auswirkungen des europäisch-afrikanischen Altkleider-Handels erklärten. Z.B. wie die Entwicklung einer heimischen Textilindustrie dadurch verhindert wird. Statt also selbst etwas zu schaffen, befassen sich die Menschen mit dem Müll anderer, in diesem Fall dem Müll aus dem sogenannten Globalen Norden.
Ich bin nicht sicher, ob dem Kollektiv das bewusst war. Jedenfalls wurde es nicht offiziell kommuniziert, aber Return to Sender stand gegenüber dem Ort, wo 1897 eine der zahlreichen deutschen Kolonialausstellungen stattfand. Neben ethnografischen Sammlungen und sogenannten Exportartikeln zeigte diese in den Räumen der Orangerie auch koloniale Rohstoffe sowie deren wirtschaftliche Verarbeitung, darunter Kaffee, Schokolade, Rohtabak und Zigarren, Zucker, Elefantenzähne und Elfenbeinfabrikate. [18] Rohstoffe fließen bis heute von Afrika aus in die Welt. Zurück kommt der Müll. THE NEST kehren das nun um. Eine Art Restitution 2.0, könnte man sagen.
Ist eigentlich schon entschieden,welches der Documenta Kunstwerke diesmal in Kassel bleiben wird? Ich plädiere für Return to Sender und auch genau an diesem Standort. Der Ankauf hätte performative Qualität. Der Rückkauf europäischen Mülls. Der Installationsort gegenüber der Orangerie eröffnete ein dauerhaftes Spannungsfeld zwischen kolonialer Vergangenheit und vermeintlich postkolonialer Gegenwart zu rImagination einer noch unbekannten Zukunft von Gemeinschaft und Gleichberechtigung.
Die Übernahme der Verantwortung für Vergangenheit, die nicht vergeht, gehört zu den großen gemeinsamen Herausforderungen Europas des 21. Jahrhunderts [19] schreiben Felwine Sarr und Bénédicte Savoy. Wesentlich ist dabei auch die Entmystifizierung der westlichen Vorstellung von Kulturerbe und seinerBewahrung. [20]Es gibt viel zu lernen:
In den afrikanischen Gesellschaften nehmen das Verhältnis zu den Dingen und ihren Lebenszyklen, zur Idee des Konservierens selbst oder des gemeinsamen Eigentums, aber auch die Modalitäten ihrer Aneignung durch die Gemeinschaften plurale Formen an. Die Rückkehr von Objekten würde somit dem Reichtum und der Vielfalt dieser alternativen Auffassung von Kulturerbe Rechnung tragen müssen, indem sie sich vom ausschließlich europäischen Denkrahmen löst. [21]
Das bedeutet nicht nur Loslassen, sondern auch Raum schaffen für andere Zugänge. Für ein Anknüpfen z.B. an die lange Geschichte des Austausches von Werken und Sammlungen zwischen Europa und Afrika im Rahmen von Museumskooperationen. Wie können Museen auf dem afrikanischen Kontinent künftig aussehen? So plädiert der Direktor des Musée des civilisations noires in Dakar Hamady Bocoum dafür, dass auch andere Kulturen in den afrikanischen Häusern repräsentiert sein sollen. [22]
Ebenso wichtig ist es, dass die Objekte aus dem afrikanischen Kulturerbe in den europäischen Sammlungen und weltweit sichtbar bleiben, damit Afrika im musealen Raum und in der globalen Vorstellungswelt präsent bleibt. Die Objekte sind durch historische Beziehungen geprägt und deren Resultate, und Ziel ist es nicht, dahinter zurückzugehen: sie werden zu Trägern zukünftiger Beziehungen aber auch zu Symbolen ihre rGewaltgeschichte. [23]
Die mögliche Entwicklung künftiger Generationen wurde systematisch und unwiederbringbar mit dem Kolonialismus zerstört. Wie kann daraus eine gemeinsame Zukunft wachsen? Welche Form von Heilung ist möglich? Jedenfalls keine, die sich mit einer Rückgabe einst gestohlener Objekte erledigt hat. Es braucht ganzheitliche Ansätze, die Heilung, Widergutmachung und Reparation neu denken. Heil ist, was ganz ist, was vollständig ist und das steht nicht im Widerspruch mit Wunden und Narben. Diese müssen als Tatsachen mit integriert werden. Es geht bei dem Prozess eigentlich um eine Vollständigmachung, das heißt es werden die fehlenden, verschwiegenen, gewaltsam ausgegrenzten Teile ins Ganze integriert, im Sinne eines vollständigen Universalismus, vielleicht.
Ich möchte diese Rede mit einem kleinen Bekenntnis schließen. Ich habe einmal geweint, als ich einen Text von Dir las, liebe Bénédicte. Ich war so gerührt, weil es zu deutlich in Worte fasst, was ich wirklich als einen möglichen Ausweg sehe. Vielen ist das zu unkonkret, doch wie sonst lässt sich über Dinge nachdenken, über die wir noch gar keine Vorstellung haben? In dem Text Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe – Deiner Antrittsvorlesung am Lehrstuhl für die Kulturgeschichte des künstlerischen Erbes in Europa zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert am Collège de France in Paris im März 2017 sagst Du fast ganz zum Schluss, ich zitiere…
Wir dürfen, ja wir müssen träumen; für die Zukunft des Kulturerbes aller Kontinente noch ungedachte juristische Konstruktionen ersinnen; neue Formen von Partnerschaften; flexible, an die Realitäten unterschiedlicher Regionen angepasste Ausstellungsmodelle; glückliche und einvernehmliche Restitutionen von Kulturgütern in Betracht ziehen, die im Interesse der Völker wie auch der Objekte erfolgen sollen. Wir müssen im Großen und im Kleinen denken, auf lange und auf kurze Sicht. Und gewiss wird man museologische Selbstverständlichkeiten und Tabus infrage stellen müssen und sorgfältig auf die kollektiven Emotionen achten, die der Umgang mit kulturellen Gütern immer auslöst. Diese Arbeit kann gelingen, wenn sie von einer ernsthaften Freude am Gestalten getragen ist, einer verantwortungsvollen, klugen und überlegten Freude, die allein diesem großen Projekt des 21. Jahrhunderts eine Seele zu verleihen vermag. [24]
Bei Dir kommt dann noch ein Zitat von Achille Mbembe, das klau ich Dir jetzt nicht auch noch aus Deiner Rede. Schlimm genug, dass ich den Teil eben zu meinen Schlussworten nehme. Eine Ergänzung: Ich frage zu gerne nach, wer genau mit dem oft zu lapidar verwendeten WIR gemeint ist. Das WIR, das auch ich durchgehend verwendete, das WIR, das auch in dem eben zitierten Absatz vorkommt. Denn WIR sind oft nicht WIR alle. WIR Europäer? WIR Europäer*innen? WIR weißen Europäer*innen? WIR? Oder WIR Menschen? Ichspiele oft mit dem WIR, das mag verwirren und fordert immer wieder dazu heraus, zu hinterfragen, wer jetzt genau mit WIR gemeint ist. Wer fehlt, absichtlich, unabsichtlich? Wer muss dazu, für ein wirkliches WIR.
Von dieser Zukunft zu träumen, ist ein unbedingter Anfang und Du zeigst mit Deiner Arbeit nicht nur die Wichtigkeit auf und gibst Hoffnung, sondern machst auch Lust auf die Arbeit zur Schaffung dieser noch unbekannten Zukunft, auf dass sie nicht nur ein schöner Traumbleiben mag.
[1] https://www.mousonturm.de/events/unlearning-europe/(Zugriff: 23.10.2022).
[2] http://www.rautenstrauch-joest-museum.de/Invisible-Inventories(Zugriff: 23.10.2022).
[3] Ebd.
[4] Bénédicte Savoy. Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialenNiederlage, München 2021.
[5] https://www.kulturrat.de/veranstaltungen/kulturpolitikpreis/(Zugriff: 23.10.2022).
[6] https://herzberger-fofana.eu/2022/08/18/deutschland-rueckfuehrung-der-sterblichen-ueberreste-des-verstorbenen-mohamed-lamine-drame-nach-senegal/(Zugriff: 23.10.2022).
[7] Daniel Loick und Vanessa E.Thompson. Die Polizei erschießt Menschen, die Mehrheit schweigt. In: ZEITONLINE. https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-09/polizeigewalt-diskriminierung-rassismus-sicherheitsbehoerden-kritik?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F.24.09.2022 (Zugriff: 23.10.2022).
[8] Savoy2021, S. 10.
[9] Walter D. Mignolo. Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien 2019
[10] Vgl.Ebd.
[11] Savoy2021, S. 15.
[12] Ebd.
[13] FelwineSarr und Bénédicte Savoy. Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin 2019, S. 23.
[14] Savoy 2021 S. 56.
[15] Savoy 2021, S. 196.
[16] Savoy 2021, S. 84ff. und Felicity Bodenstein. Die Diplomatie der Zurückweisung–Verhandlungen um die FESTAC-Maske. In: Beute. Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe. Hrsg. Von Isabelle Dolezalek, Bénédicte Savoy und Robert Skwirblies. Berlin, 2021, S. 348ff.
[17] NjokiNgumi. Wir werden nicht ewig verhandeln. In: Texte zur Kunst. Juni 2022. 32.Jahrgang. Heft 126, S. 75ff.
[18] Vgl. http://kassel-postkolonial.de/orte/(Zugriff: 23.10.2022).
[19] Sarr/Savoy 2019, S. 15
[20] Sarr/Savoy 2019, S. 73
[21] Sarr/Savoy 2019, S. 72
[22] Sarr/Savoy 2019, S. 84f.
[23] Sarr/Savoy 2019, S. 85
[24] Bénédicte Savoy. Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zumuniversalen Menschheitserbe. Berlin, 2018
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Bénédicte,
ich glaube, es wäre nicht aufrichtig, wenn wir uns hier siezen würden: Wir kennen uns lange, wir haben viel miteinander diskutiert und müssen bei einer Veranstaltung, die dem Thema Vernunft und Aufklärung gewidmet ist, niemandem eine professionelle Distanz vorspielen, die es jedenfalls in diesem Kontext, um den es heute geht, ja auch gar nicht geben muss.
Denn das ist ja das Schöne an einer Laudatio: Der Laudator muss nicht vermeintlich objektiv und neutral die einen gegen die anderen Aspekte abwägen: Er darf und soll loben, aus subjektiver Perspektive, aus vollem Herzen. Und diesem Wunsch der Veranstalter*innen bin ich so gern nachgekommen, dass ich nur bedaure, wegen einer Knie-Operation nicht unmittelbar bei Ihnen und bei Dir in Kassel sein zu können. (Es wäre neben dem eigentlichen Anlass ja auch schön gewesen, als Kulturjournalist vor Ort, in Kassel, nach Monaten endlich mal wieder über etwas anderes als über die documenta, ihre Risiken und Nebenwirkungen zu sprechen.)
Ich gestehe gleich zu Beginn freimütig ein, dass ich nicht nur ein Beobachter und journalistischer Begleiter der Arbeit von Bénédicte Savoy bin: Was diese Arbeit und die Persönlichkeit, die Sie heute in Kassel mit dem „Glas der Vernunft“ auszeichnen, fehlt mir jede professionelle Distanz. Damit das gleich klar ist.
Ich bin ein großer Fan ihrer Arbeit und ihrer Persönlichkeit. Ich bewundere über alle Maße ihr argumentatives Engagement, ihren engagierten Kampf gegen Widerstände und für die historische und kulturelle Wahrheit – für die klassischen Werte der Aufklärung in so vielen Bereichen. Und ich frage mich, seit wir uns kennen, regelmäßig, woher die äußere Kraft für dieses innere Engagement, für das wir alle dankbar sein müssen, eigentlich kommt. Aber dazu später noch.
(Vor drei Jahren gab es übrigens sogar einmal einen fast unheimlichen Moment, was diese fehlende Distanz angeht. Damals war gerade im Greven-Verlag das schmale Bändchen „Museen – Eine Kindheitserinnerung und ihre Folgen“ von Bénédicte Savoy erschienen: ein Vortrag, der mit den schulischen Freistunden beginnt, die sie oft im Centre Pompidou verbrachte; für Schüler*innen war dort der Eintritt frei. Und der zur lebenslangen Faszination für das Thema Museum, seine Geschichte, seine Inhalte führte – von der wir alle bis heute durch die Arbeit von Bénédicte Savoy zum Thema Sammeln und Sammlungen profitieren.
Den Titel zierte ein Kinderbild der Autorin – im Alter von vielleicht zwei oder drei Jahren.
Wenn Sie jetzt daneben das Foto von mir in ungefähr demselben Alter sehen, das bei meinen Eltern zu Hause im Regal steht, können Sie vielleicht verstehen, dass ich mir Fragen gestellt habe, als ich das Büchlein aus dem Umschlag zog.
Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass wir nicht als Kinder vertauscht wurden – und das nicht nur, weil Bénédicte Savoy so ungleich viel besser Französisch spricht, als ich es jemals werde. Sie ist auch ungleich mutiger – und weiß soviel mehr in so vielen Bereichen der Kultur – und des Lebens.
Damit also endlich zu der Frau, der vielfach ausgezeichneten Wissenschaftlerin, der großen Aufklärerin, die heute völlig zu Recht das „Glas der Vernunft“ erhält. Und zu dem Thema, das sie eigentlich die größte Zeit ihres wissenschaftlichen Lebens in Frankreich und in Deutschland und auf der ganzen Welt beschäftigt hat:
Welche gesellschaftliche, welche politische Funktion und Folgen haben Ansammlungen von Kunstwerken im Laufe der Jahrhunderte gehabt? Und was heißt das für diese Werke selbst – denn die verliert Bénédicte Savoy nie aus dem Blick; sie nimmt sie ernst. Sie sind nie nur ein Mittel zum Zweck, um strukturelle Zusammenhänge aufzuzeigen. Die Kunst bleibt das Eigentliche, das Zentrale.
Wie kamen Sammlungen zustande – die erst in sakralen und höfischen Räumen und Kunstkammern und ab dem späten 17. Jahrhundert dann auch in bürgerlichen Museen zusammengefasst und gezeigt wurden? Welche Ideen standen dahinter – welcher Machtanspruch aber auch? Und vor allem: Was wurde erworben, was geschenkt – was ganz einfach gestohlen oder, wenn Gewalt im Spiel war, geraubt?
„Translokation“ heißt der so harmlos klingende Begriff dafür, dem Bénédicte Savoy ihr Interesse und ihre Arbeit gewidmet hat und für den sie inzwischen steht, wie keine Zweite. „Ortsveränderung“ oder „Verlagerung“ wäre wohl die nüchterne, harmlose Übersetzung dieses Begriffes in Deutsche. Tatsächlich steckt aber viel mehr dahinter, wenn Kulturgüter von ihrem Ursprungsort an einen anderen gebracht werden.
Sie können Beutegut sein, Lösegeld, Kompensation für erlittene Schäden, Trophäen nach gewonnenen Kriegen, Handelsware für den spätestens im frühen 17. Jahrhundert entstandenen Kunstmarkt.
Aber auch vermeintliche Belege für die angebliche kulturelle Überlegenheit der eigenen Kultur über eine andere, lange so genannte „primitive“ Kultur. Oder einfach „nur“ der leider häufig gelungene Versuch, eine andere Kultur auszulöschen, indem man sie brutal der Zeugnisse ihrer kulturellen oder religiösen Identität beraubt. Denn diese Identität – darauf weist Bénédicte Savoy immer wieder hin – ist es, die vor allem verloren geht, wenn Kunstwerke und Kulturgüter verschwinden oder geraubt werden.
Jahrhundertelang sind diese „Translokationen“ als etwas Selbstverständliches hingenommen worden – auf Seiten derer jedenfalls, die sich dieser Kulturgüter bemächtigt, sie ihren Herkunftsgesellschaften weggenommen und ganz selbstverständlich den eigenen Museen einverleibt haben. Obwohl die formal schon damals den Anspruch hatten, Orte der Bildung zu sein – und nicht Schatzkammern für geraubte Güter. „Völkerkundemuseen“ hießen diese Häuser oft viel zu lange – und viel zu verharmlosend. Verbarg sich dahinter doch tatsächlich der Anspruch, aus der eigenen, der westlichen Perspektive das Publikum darüber „aufzuklären“, welche Teile der Welt und welche Menschen und Völker dort wie zu betrachten und zu bewerten seien.
Der Historiker Götz Aly hat am Beispiel eines eigenen Vorfahren und eines von der Südseeinsel Luf nach Berlin „translozierten“ Prachtbootes darauf hingewiesen, wie eng diese vollkommen unwissenschaftliche angeblich wissenschaftliche Disziplin der „Völkerkunde“ mit Kolonialismus und Rassismus verbunden war – und letztlich vor allem ein Vorwand, europäische Museen zu füllen. Das Boot befindet sich nach wie vor im Besitz der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ – auch so ein Wort … -, inzwischen im Humboldt-Forum.
So verstanden, erfuhr der eigentlich ehrenwerte Begriff der wissenschaftlichen Aufklärung ausgerechnet im Museum lange Zeit eine Pervertierung, die auf der Annahme beruhte, es gebe so etwas wie eine Wertigkeit unterschiedlicher Länder, Kulturen – und Menschen. Schlauere, entwickeltere, hochwertigere – und eben die bis ins 21. Jahrhundert hinein so genannten primitiven.
Dass sich diese pervertierte Perspektive auf die Welt heute niemand – und schon gar kein Museum – mehr leisten kann, ist nicht zuletzt eines der großen Verdienste auch von Bénédicte Savoy. Und der Anstoß dazu liegt noch gar nicht allzu lange zurück. Um so erstaunlicher ist, was sich seither getan hat.
Dabei stand der Zusammenhang zwischen der brutalen Kolonialzeit, die beispielsweise in den Niederlanden immer noch vielfach verharmlosend das „Goldene Zeitalter“ genannt wird, und den sich füllenden Museen gar nicht am Beginn der wissenschaftlichen Arbeit von Bénédicte Savoy. Die Sache begann – small wonder – mit einem Franzosen: mit Napoléon Bonaparte. Der erste Band, den ich von ihr wahrgenommen habe – das muss ungefähr zwanzig Jahre her sein – dokumentierte die Beschlagnahmen von Kulturgut durch Frankreich in Deutschland um 1800. Was für ein Thema für eine Kunsthistorikerin, die 1972 in Paris geboren wurde, in Berlin zur Schule ging, in Fontenay nahe der französischen Hauptstadt studierte und dann über das Centre Marc Bloch ans Collège de France und an die TU Berlin fand, wo sie bis heute als Professorin das Fachgebiet Kunstgeschichte der Moderne leitet.
„Es hat mit der Berliner Quadriga zu tun“, hat Bénédicte Savoy darüber in einem Interview erzählt. „Die Quadriga war in Paris, Napoleon hat sie 1807 dorthin gebracht – und das wurde mein Dissertationsthema. Darüber habe ich drei Jahre lang geschrieben. Nicht nur über die Quadriga, sondern über die vielen tausend Objekte, die sich Frankreich damals angeeignet hat. …
Und das – weil ich damals schon in Berlin war – aus der Perspektive der Verlierer, derjenigen, die ihr Kulturerbe in Potsdam, Berlin, Kassel, Braunschweig, Schwerin, Wien verloren haben. Deren Stimmen haben mich interessiert. Seitdem bin ich auf der Seite derjenigen, die verlieren – und nicht auf der Seite derjenigen, die ihre eigene Geschichte als Sieger schreiben. Und das prägte sich ein.“
„Seitdem bin ich auf der Seite derjenigen, die verlieren …“ Ich komme zu dieser Selbstbeschreibung zurück, die sich wie eine Art Roter Faden durch die Arbeit dieser außergewöhnlichen Frau zieht – auch wenn das nicht in jedem ihrer Interessengebiete deutlich zu werden scheint. So forschte und publizierte Bénédicte Savoy auch über die Entstehung des öffentlichen Museums in Deutschland zwischen 1701 und 1815 wie über die Ausbildung deutscher Maler in Paris. Dann wieder über die Eindrücke internationaler Besucher*innen zwischen 1830 und 1990 auf der Berliner Museumsinsel – großartige Quellen! Und fast wie nebenbei gab es dann auch noch akribisch recherchierte Bände über die Nofretete-Büste aus deutsch-französischer Sicht oder über die Propagandafilme, die die Nazis ab 1934 über die Museumsinsel drehen ließen. Weil ich weiß, wie lange ich an einem Buch sitze, kenne ich annähernd das Arbeitspensum, das dahintersteckt.
Diese Bücher zu lesen, ist schon ein Vergnügen: weil sie vollkommen klar ihr Erkenntnisinteresse formulieren und ihre dazu gewonnenen Erkenntnisse darlegen: in einer Sprache, die keine Floskeln braucht, um kompetent zu sein. Nichts von jenem esoterischen Kurator*innendeutsch über das „Wesenhafte des Wesens“ oder die „paradigmatischen Topoi der Postmoderne“. Solche oft hohlen Worthülsen braucht Bénédicte Savoy nicht. Denn sie nimmt ihr Publikum nicht nur gleichberechtigt mit auf ihre eigene Entdeckungsreise – sie nimmt es auch ernst. Und wie sollte sich das anders äußern als in ihrer Sprache: klar strukturiert und immer im Bewusstsein der Notwendigkeit, zu erklären, warum die bearbeiteten Themen und die gewonnenen Erkenntnisse auch für die Gegenwart relevant sind.
Das sind keine Berichte aus dem Elfenbeinturm: Hier schreibt eine selbstbewusste Citoyenne klug, kompetent, witzig – und mit großem Interesse daran, die Vergangenheit als Grundlage der Gegenwart zu verstehen – und Anderen auch verständlich zu machen.
Noch vergnüglicher ist es allerdings, Bénédicte Savoy bei einem ihrer Vorträge zuzuhören. Da dienen dann nicht nur gelegentlich alte Stiche und leere Inventarseiten als Anschauungsmaterial. Da flimmert auch schon einmal ein Ausschnitt aus einer französischen TV-Sendung über die Leinwand, in der der in Frankreich hoch angesehene Moderator Roger Gicquel schon 1978 erklärt, dass der UNESCO-Generaldirektor die Rückgabe von außereuropäischen Kunstwerken an ihre Herkunftsländer forderte. Gicquel war darüber sichtlich irritiert – und ich war es auch, als ich diesen historischen Clip vor zwei oder drei Jahren in einem Vortrag von Bénédicte zum ersten Mal sah. Ich hatte nämlich – wie wahrscheinlich Viele – nicht gewusst, dass diese Forderung nach Restitution von Kolonialbeute fünf Jahrzehnte alt ist.
Bénédicte Savoy schon. Und wieder wurde durch ihre Arbeit deutlich, wie gegenwärtig die Vergangenheit ist – mag sie nun Jahrhunderte und im Geheimen Preußischen Staatsarchiv oder nur Jahrzehnte zurückliegen und im französischen Fernsehen dokumentiert sein.
(Sollten Sie die Gelegenheit haben, einen solchen Vortrag einmal zu haben, dann nehmen Sie diese Gelegenheit unbedingt wahr!)
Das Thema der Kolonialzeit und ihrer bis heute andauernden Folgen beschäftigte Bénédicte Savoy damals schon einige Zeit.
2016 übersetzte sie die Fabel oder Farce „Mona Lisa in Bangoulap“ des französischen Autors Arno Bertina. Ausgangspunkt: Was wäre, wenn bei der französischen Kulturverwaltung eines Tages ein Brief aus Kamerun einträfe, in dem die Kameruner freien Eintritt für das Pariser Museum für außereuropäische Kunst fordern – weil sie sich weigern, Geld für die Betrachtung der Kunstwerke ihrer eigenen Vorfahren auszugeben?
Bénédicte Savoy steuerte als Nachwort einen Essay über Sammlungsgeschichten und Museumsarbeit in der postkolonialen Weltgesellschaft bei und machte damit auch in den deutschen Museen nicht alle Direktor*innen und Kurator*innen ausschließlich glücklich.
Das tat sie auch nicht für ihre Antrittsvorlesung am Collège de France im März 2017, die unter dem Titel „Die Provenienz der Kultur – Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe“ auch auf Deutsch veröffentlicht wurde. Bénédicte Savoy plädierte darin für eine ganz neue Perspektive, die wieder die betroffenen Objekte selbst in den Mittelpunkt rückt, ihre Biografien und das, was Bénédicte Savoy den „Weg zu uns“ nennt.
In Deutschland gab es zu diesem Zeitpunkt – gerade einmal vier Jahre her! – in vielen deutschen Museen massiven Widerstand gegen diese neue Betrachtungsweise. Und man fand zahlreiche vermeintliche Argumente dafür, dass Kulturgüter aus ehemaligen Kolonien in afrikanischen Ländern doch besser weiter in Europa bleiben sollten: das Klima, die Gebäude, die Sicherheit, der wissenschaftliche Umgang damit. Welche hohen Standards Museen in afrikanischen Ländern erfüllen, wusste offenbar niemand. Darüber, welches Bild von dem Kontinent bis heute dahinter steckt, an dieser Stelle lieber nicht mehr.
Diese Argumente des "besseren Hüters" des Kulturerbes“, hat Bénédicte Savoy dazu süffisant kommentiert, seien ziemlich alt und immer wieder beliebig angepasst worden. Zitat: „Schon Napoleon hat damals um 1800 zu den Deutschen gesagt: ‚Die Deutschen haben keine Ahnung, was Dürer angeht! Der liegt im Stroh in Bayern! Der muss nach Paris, dort wird er besser gehütet!‘"
Dass das diese vermeintlichen „Argumente“ gegen eine Restitution letztlich auch nichts anderes als eine Fortschreibung von Kolonialgeschichte mit anderen Mitteln war, fiel zumindest in Deutschland Vielen nicht auf. …
Das höchste der Gefühle war hier – etwa im Hinblick auf die aus Nigeria und dem Königreich Benin gestohlenen Bronze-Reliefs und Plastiken, die „Benin-Bronzen“ – die Idee einer so genannten „shared ownership“: Man war großzügig bereit, das Eigentum mit den Herkunftsgesellschaften, denen sie gestohlen worden waren, künftig wenigstens zu teilen. Ein Eigentum, dass die Museen in Deutschland nach ethisch-moralischen Kriterien überhaupt nicht hatten.
Einer aber schien die Fabel gelesen und die Vorlesung gehört zu haben: Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron beauftragte Bénédicte Savoy gemeinsam mit dem senegalesischen Sozialwissenschaftler Felwine Sarr, die Möglichkeit der Rückgabe von Kulturgütern französischer Museen an afrikanische Länder zu prüfen. Im November 2018 lag der Bericht vor, und Macron hielt letztlich Wort: Frankreich restituierte eine Reihe von großen Figuren, die 1892 bei einer Plünderung erbeutet und nach Paris gebracht worden waren. Einen „unfassbaren Tag“ hat Bénédicte Savoy jenes Ereignis, zu dem sie gemeinsam mit Felwine Sarr die Grundlage gelegt hatte, später genannt. Und sie hat es vor Ort von Bedeutung und Menschenmenge her mit dem Fall der Berliner Mauer verglichen. Die Ausstellung der Objekte haben 175.000 Menschen gesehen.
Das französische Beispiel konnte schon bald niemand ignorieren. Deutschland hat inzwischen Kunstgegenstände an Namibia zurückgegeben, Bronzen an Nigeria folgten – anders als aus Frankreich allerdings nicht bedingungslos und nicht sofort. Auch in den ehemaligen Kolonialmächten Belgien und Niederlande gibt es Initiativen. Großbritannien als einst größtes Kolonialland hingegen hält sich nach wie vor bedeckt. Trotzdem lässt sich die weltweite Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit und dem damit verbundenen Kunstraub nicht mehr zurückdrehen.
Im vergangenen Jahr zählte das New Yorker Time-Magazine Savoy und Sarr zu den „100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt“.
Kleiner Exkurs: In Deutschland wurde etwa zeitgleich nach wie vor über das bis heute umstrittene Humboldt-Forum diskutiert. Äußerlich die halbgare architektonische Rekonstruktion des Stadtschlosses eines anti-demokratischen und antisemitischen Kaisers mit entsprechend dürftigem Kulturverständnis. Vorgesehen für die Berliner Bestände außereuropäischer Kultur. Inhaltlich also eigentlich die Gelegenheit für die Bundesrepublik Deutschland, sich selbst und seine koloniale Vergangenheit einem Weltpublikum im Zentrum der Hauptstadt Berlin zumindest zu erklären. Das hatte wohl auch Bénédicte Savoy gedacht, als sie 2015 ihrer Berufung in die so genannte Expertenkommission zustimmte. Sie blieb nur knapp zwei Jahre, in denen das Gremium genau zweimal einberufen wurde. Nach ihrem Rücktritt – aus Frustration – sprach sie von einer „Pro forma-Veranstaltung“ und benannte grundlegende Defizite bei der Klärung der Herkunft von Objekten wie bei der Zusammenarbeit von Sammlung und Wissenschaft. Die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ leide an einer Sklerose, an einer Verhärtung der Organe also. Und das andere berühmte Zitat kennen Sie wahrscheinlich alle: Bénédicte Savoy verglich die Konzeption des nationalen Prestige-Projektes Humboldt-Forum mit dem havarierten Atomreaktor von Tschernobyl und sagte im Juli 2017 in der „Süddeutschen Zeitung“: Das Forum sei „unter dieser Bleidecke begraben […] wie Atommüll, damit bloß keine Strahlung nach außen dringt“. Ihre Bedenken und Einwände, dass ein solches Museum sich um Transparenz bemühen müsse, seien wiederholt „abschätzig weggebügelt“ worden.
Aktuell ist diese Kritik übrigens bis heute noch. Vor drei Wochen wurde – mit einiger Verspätung – im Humboldt-Forum auch der Ostflügel eröffnet. Zu sehen sind dort auch Benin-Bronzen, von denen es mehr als eintausend in deutschen Museen gibt, die meisten davon in Berlin. Sie verschwanden nach der britischen Invasion von Benin – die meisten als Raubkunstobjekte, insgesamt wohl 3.000 bis 5.000 Stück. Die Forschung zu den einzelnen Objekten hat gerade erst begonnen.
Beschriftung an einem „Uhunmwun“, einem Gedenkkopf, im Humboldt-Forum trotzdem: „gesammelt in Nigeria und erworben 1898 durch Eduard Schmidt“.
Keine Information dazu, dass Eduard Schmidt für das Handelshaus Witt und Büsch in den Kolonien tätig war und später Konsul in Lagos in Nigeria wurde. Keine Information dazu, wie er an dieses und zahlreiche andere Objekte kam, die er später an deutsche Museen verkaufte. Dafür als Vermittler in einem der Räume der Ausstellung ein so genannter „Live-Speaker“ mit khakifarbenem Tropenhemd und hellem Tropenhut mit Feder an der Seite. Deutsche Transparenz 2022.
Dass dieses Thema und diese Verweigerung nicht neu, sondern einer der vielen falschen historischen Mythen der Bundesrepublik sind, hat Bénédicte Savoy im vergangenen Jahr noch einmal in ihrem Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“ belegt, das mich sehr beeindruckt hat. Sie zerpflückt darin sehr sachlich die so beliebte wie bequeme Legende, die afrikanischen Herkunftsstaaten und ehemaligen Kolonien hätten nach ihrer Unabhängigkeit ja gar kein Interesse an einer Rückgabe der Zeugnisse ihrer kulturellen Identität gehabt.
Au contraire, wie Andreas Kilb in der FAZ schrieb: „Savoy zeichnet anhand von Archivmaterial in allen Einzelheiten nach, wie mehrere afrikanische Staaten, allen voran Nigeria und Zaire, seit ihrer Unabhängigkeit versucht haben, Teile ihres in westlichen Museen lagernden Kulturerbes zurückzuerlangen – und wie der Westen diese Versuche abschmetterte oder ins Leere laufen ließ.“ Das heißt: seit den 1950er-Jahren. Dann wieder in den 70er- und 80er-Jahren – und dann lieber gar nicht mehr. Roger Gicquel und das französische Fernsehen lassen als historische Quelle grüßen.
„Was wir hauptsächlich fordern, oder was wir empfehlen“, sagte Bénédicte Savoy bei der Vorlage des Berichts an den französischen Staatspräsidenten, „ist im Grunde das Ende der Arroganz: das Ende der Arroganz seit den 1960er-Jahren im französischen Fall, seitdem afrikanische Staaten bestimmte Objekte aus ihrem Kulturerbe zurück haben wollen und bis jetzt die Antwort immer entweder gar keine war – oder ‚nein‘ war. Wir empfehlen, dass man damit aufhört, dass die Ohren sich öffnen und dass man sich dieser gemeinsamen Geschichte stellt, auch wenn sie nicht nur aus sonnigen Seiten, nämlich Kunstsammlungen besteht, sondern auch aus der Kolonialgeschichte, die im französischen Fall – aber auch im deutschen, zu anderen, unterschiedlichen Zeitpunkten – auch eine Geschichte der Gewalt und von asymmetrischen Machtverhältnissen geprägt ist.“
„… anhand von Archivmaterial“, hat Andreas Kilb in der FAZ geschrieben. Das ist eine so banale wie wichtige, ja grundlegende Beobachtung im Hinblick auf die Arbeit und das Werk von Bénédicte Savoy. Denn woher kommt das Interesse an all diesen so unterschiedlichen Themen? Was eint Napoleon und Nofretete, die Berliner Museumsinsel und NS-Propagandafilme – und die Kolonialzeit?
In der Antwort, die wieder Bénédicte Savoy selbst am besten geben kann, liegt im Grunde die zentrale Rechtfertigung dafür, dass Bénédicte Savoy heute das „Glas der Vernunft“ vollkommen zu Recht verliehen bekommt. Denn die Aufklärung, die uns alle zu denkenden, emanzipierten, engagierten Menschen gemacht haben sollte, ist ohne die Vernunft nicht zu haben.
Du selbst, Bénédicte, hast auf die Frage nach Deiner Motivation einmal geantwortet: „Was mich hält? Alles Unerzählte, das noch in den Archiven liegt und das vielleicht andere Arten von Erzählungen über unsere eigene Vergangenheit ermöglicht. Ich orientiere mich an historisch belegten Fakten in Archiven. Ich gehe ins Archiv und finde Fakten, die belegt sind durch Fotografien, durch Listen von Kriegstrophäen, Kriegsbeute und so weiter. …
Diese historisch belegten Fakten sind wie ein Kompass. Sie sagen mir und Historikerinnen und Historikern: Man orientiert sich an den Fakten, die man entweder kennt oder wiedererkennt oder in Archiven wiederfindet.“
Bénédicte Savoy entwickelt ihre Themen, ihre Thesen und ihre Erkenntnisse also immer auf der einzig möglichen Grundlage, die es für eine Wissenschaftlerin geben kann – an belegbaren Fakten. An dem, was wirklich geschehen ist – belegbar geschehen ist.
Es gibt nämlich nach wie vor Wahrheiten, auch historische Wahrheiten – nicht nur Meinungen. Wir müssen uns nur die Mühe machen, sie zu suchen und zu finden. Auch wenn es allein durch die Vielzahl der inzwischen auch digital zur Verfügung stehenden Quellen immer schwieriger geworden ist, die verlässlichen von den unsinnigen, von den politische motivierten, von den Verschwörungserzählungen zu unterscheiden. Darin aber liegt die große Kunst, die diese Wissenschaftlerin beherrscht. Und sie hat nichts mit Haltung oder mit Meinung zu tun, sondern allein mit historischem Handwerk und mit belegbaren Fakten. Mit Vernunft.
Ich weiß bis heute nicht, Bénédicte, – und jetzt wird’s doch nochmal persönlich – wie Du das alles schaffst. In Vorbereitung für die heutige Veranstaltung bin ich noch einmal unsere SMS- und WhatsApp-Wechsel der vergangenen Jahre durchgegangen. „Wo bist Du denn gerade“, lautet darin eine meiner regelmäßigen Fragen. Und die Antworten aus den vergangenen Jahren lauten unter anderem: Dakar, Paris, London, New York, Basel, Köln, Brüssel, Bamako, Stuttgart. München, Cotonou, Kapstadt und und und …
Und dann habe ich aber auch Nachrichten von Dir gefunden, durch die ich doch zu verstehen glaube, wie und warum Du vielleicht so arbeiten und leben musst, wie Du es tust.
28. Oktober 2021:
Lieber Stefan, gestern gab es die überwältigende Restitutions-Zeremonie in Paris, Wahnsinn! Hier ein paar Impressionen. Es geht am 10.11. weiter mit dem Auspacken der Königlichen Schätzen von Aboley in Cotonou.
Jetzt ist es ein neues Zeitalter
9. November:
Wir sind noch im Himmel über Afrika. Mal sehen, was morgen passiert.
Und am nächsten Tag folgen dann viele Fotos und Filme. Von Menschen entlang einer Straße zum Beispiel, die dem LKW mit den restituierten Kulturgütern zujubeln. Von einem Chor in Landestracht, der singt. Von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr vor einem großen Plakat, das die Rückkehr feiert.
Ich war nicht dabei, aber ich war berührt. Und kann mir vorstellen, wie beglückend es für Dich sein muss, nicht nur Bücher zu schreiben, die in Regalen stehen und in Dissertationen zitiert werden. Wie beglückend es sein muss, als Wissenschaftlerin tatsächlich etwas in der realen Welt jenseits der Hochschulwelt zu bewegen. Mit Eitelkeit hat das nichts zu tun, so gut glaube ich Dich inzwischen zu kennen. Vielmehr mit einem wohl unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Vernunft und des Wissens und der Aufklärung und der Wahrheit. Auch dafür mein grenzenloses Kompliment. Mir kommt dieser Glauben angesichts der globalen Entwicklung inzwischen manchmal zumindest zeitweise abhanden.
Deswegen gibt es da zum Schluss noch eine andere Frage, die Du mir bitte irgendwann mal unter vier Augen bei einem Glas Wein beantworten musst – in Berlin oder Kassel oder Köln:
Woher kommt Deine anscheinend unendliche Geduld? Wie schaffst Du es, Dich immer wieder mit denselben Menschen an einen Tisch zu setzen und ihren zum Teil unsäglichen Ausreden wieder und wieder und wieder Deine sachlichen Erkenntnisse und Argumente entgegenzuhalten? Ich habe Dich das Ende 2018 mal in einem Interview zum Humboldtforum und der Macron-Studie gefragt und damals gesagt: „Ich erkenne da nach wie vor kein tragfähiges Konzept. Es gibt Widerspruch in Deutschland gegen die Studie, weil sie immer reduziert wird nur auf die Frage „zurückgeben oder nicht zurückgeben“. Im Koalitionsvertrag steht drin, dass man die koloniale Vergangenheit Deutschlands aufarbeiten wolle. Warum geht es nicht voran in Deutschland, weil wir kein zentralistischer Staat sind wie Frankreich?“
Geantwortet hast Du damals: „Wie die Situation hier in Deutschland ist, würde ich nicht als so düster beschreiben. Erstens: Es ist nicht meine Rolle, hier als Französin irgendwas zu bemängeln. Und zweitens sind es gesellschaftliche tiefe Veränderungen, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen, daran zu erinnern, dass zum Beispiel in Museen die Objekte nicht einfach so gekommen sind, sondern oft im Zuge von militärischen Aktionen oder von sogenannten wissenschaftlichen Expeditionen, die sich des Machtapparats des Kolonialismus vor Ort bedient haben. Daran zu erinnern, das dauert lange. Man kann mehr oder weniger geduldig sein, und in Ihrer Frage höre ich, dass Sie sehr ungeduldig geworden sind. Vielleicht muss man sich gedulden.“
Wäre ich jetzt bei Euch in Kassel, würde ich Dich gern gleich unter vier Augen fragen, ob Du diese Geduld immer noch hast. Oder ob sie durch die Ereignisse in den vergangenen Jahren und durch Deine unmittelbaren Erlebnisse in Afrika vielleicht sogar noch größer geworden ist. Denn Du weist auch immer wieder darauf hin, dass die Fragen, über die wir sprechen, nicht nur Deutschland betreffen. …
Man müsse sich vorstellen, hast Du gesagt, dass die Reaktionen auf den Bericht von Felwine Sarr und Dir in Afrika selbst, auf dem Afrikanischen Kontinent, aber auch in den USA ungeheuerlich positiv seien. Zitat:
„Reaktionen, die einen Paradigmenwechsel begrüßen, das Ende einer kolonialen Haltung, die es bis jetzt gab, die auch ihren Ausdruck findet in Projekten wie Dauerleihgaben in afrikanischen Ländern. Wir plädieren dafür – und das ist das, was neu ist –, dass die Rückgaben, Restitutionen stattfinden, auch als Zeichen des Vertrauens, des Respekts und des Vertrauens in eine andere Zukunft, in einer anderen Form der Beziehung Europas mit den afrikanischen Ländern unter anderem. Da hat sich viel schon bewegt, und wenn in Deutschland die Gefahr der Akademisierung oder der administrativen Handhabe von Geschichte da ist, ist das eine Sorge, die, glaube ich, im Vergleich zu dem, was sich jetzt gerade bewegt weltweit, eine kleine Sorge. Ich glaube, die Bewegung ist jetzt sehr groß, und das ist der Marsch der Geschichte.“
Du würdest das so selbst nie sagen, auch das gehört zu Deinem Wesen. Aber Du hast als Historikerin die Geschichte verändert: ganz sicher die Kulturgeschichte, wahrscheinlich auch die Weltgeschichte. Und Du hast es getan mit den Mitteln der Historikerin, der Wissenschaftlerin: nicht mit Aktivismus, sondern mit Fakten, die Du recherchierst, gefunden, aufbereitet und publiziert hast. Und Grundlage für all das waren der Glaube an die Menschenrechte, an den Humanismus, an Aufklärung – und an die Vernunft: und davon weit mehr als nur ein „Glas der Vernunft“ voll.
Bénédicte: Ich bin froh, dass es Dich gibt. Wir alle können das sein. Ich bin glücklich, dass ich immer wieder mit Dir reden kann und Du meinen und unser aller Horizont erweiterst. Und ich gratuliere Dir und der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“ von Herzen zur Entscheidung, Dir heute in Kassel diesen Preis zu verleihen.
Was für eine großartige Entscheidung, was für eine wunderbare Preisträgerin.
Je t’embrasse.