Foto: © Andreas-Labes
Carolin Emcke
Preisträgerin 2024
Festrede: Prof. Dr. Mirjam Zadoff
Laudatio: Prof. Dr. Martin Saar
Am 29. September 2024 wurde zum 33. Mal der Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ in Kassel verliehen. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und ging an die Publizistin und Autorin Dr. Carolin Emcke. „Carolin Emcke hat mit ihren Diskussionsbeiträgen den demokratischen Kompass besonnen ausgerichtet und das Rückgrat der Demokratie beharrlich aufgerichtet“, sagte Wilfried Sommer, Vorsitzender des Vorstandes der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Preises. Indem sie schreibe, begebe sich Carolin Emcke auf die Suche nach dem, was wahr ist. „Sie findet ihren Rhythmus des Befragens, er bleibt dialogisch, offenlassend und respektvoll. Ihre Empathie öffnet den Raum für Verständigung und Anerkennung.“
Carolin Emcke kuratiert und moderiert seit 20 Jahren den „Streitraum“ an der Schaubühne Berlin. 2016 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet – die Liste ihrer Preise ist lang. Als Inhaberin der Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen 2023 stellte sie heraus: „Anders lässt sich für mich nicht sprechen und schreiben als mit der eingelassenen Erwartung, dass die Erfahrungen anderer überhaupt zählen, dass sie erzählt werden, weil sie als Menschen zählen, weil sie ein Antlitz haben, das ähnlich oder unähnlich, aber human ist.“
Die Festrednerin Prof. Dr. Mirjam Zadoff sprach auf besonderen Wunsch von Carolin Emcke zur Menschenwürde. Zadoff ist seit 2018 Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München und eine wichtige Stimme gegen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland. Prof. Dr. Martin Saar hielt die Laudatio. Er hat das publizistische Schaffen von Carolin Emcke eng begleitet und ist der zweite Habermas-Lehrstuhlnachfolger am Institut für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Im Vorfeld der Preisverleihung verdeutlichte Carolin Emcke: „Ich bin ungeheuer dankbar für diese Auszeichnung. In Zeiten der mutwilligen Aufwertung von Aberglauben, Stammeslogik und Ressentiment ist es nötig, die universalistischen Prinzipien der Aufklärung wieder zu verteidigen. Es ist eine große Ehre in die Reihe der Preisträger:innen aufgenommen zu werden.“
Am Tag vor der Preisverleihung diskutierten bereits Schülerinnen und Schüler der Kasseler Schulen mit Oberstufengymnasium, Teilnehmende der Kasseler Jugendsymposien und Studierende der Universität Kassel im UNI:Lokal der Universität mit Carolin Emcke.
Der Preis wurde am 29. September 2024 um 11.30 Uhr im Opernhaus des Staatstheaters Kassel an Carolin Emcke übergeben.
Die Preisträgerin
Carolin Emcke studierte Philosophie in London, Frankfurt/M. und Harvard und promovierte über den Begriff „Kollektiver Identitäten“. Sie arbeitete von 1999 bis 2014 als internationale Reporterin mit Fokus auf Menschenrechten und Krisenregionen. Emcke berichtete u.a. aus dem Kosovo, aus Afghanistan, Irak, Gaza, Kolumbien und Haiti.
Seit 2014 ist sie als freie Publizistin tätig. In ihren Büchern, Essays, Kolumnen, aber auch mit ihren künstlerischen Interventionen befasst sie sich mit den Themen Gewalt und Trauma, Demokratie-feindlichkeit und Rassismus, Sexualität und Begehren. Ihre Bücher wurden weltweit in über 10 Sprachen veröffentlicht. Darunter „Gegen den Hass", „Weil es sagbar ist", „Wie wir begehren". Seit 20 Jahren kuratiert und moderiert Carolin Emcke den „Streitraum“ an der Schaubühne Berlin, seit 2023 den Podcast „In aller Ruhe“. Sie hat in Madrid, London, Frankfurt/M., Cambridge und New York gelebt und ist nun in Berlin zuhause.
Sie wurde u.a. mit dem „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“, dem „Johann Heinrich Merck-Preis für literarische Kritik und Essay“, dem "Soul of Stonewall Preis" und dem „Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik“ ausgezeichnet.
Foto: @ Harry Soremski
Fotos der Preisverleihung
Foto: @ Harry Soremski
Foto: @ Harry Soremski
Foto: @ Harry Soremski
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Pressespiegel und weiterführende Artikel
Reden zur Preisverleihung
Bedankung der Musikerinnen
Die 33. Preisverleihung des Kasseler Bürgerpreises„Das Glas der Vernunft“ wurde mit dem Konzert für 4 Violinen in D-Dur von GeorgPhilipp Telemann eröffnet. Alle vier Musikerinnen – Julia Schleicher,Bernadette Schrietter, Susanne Jablonski und Giulia Sardi – sind Musikerinnendes Staatsorchesters Kassel.
Vielen Dank an das Mara Quartett!
Begrüßung
Liebe Bürgerinnen und Bürger der Stadt und desLandkreises Kassel, liebe Mitglieder des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas derVernunft“, liebe Gäste der Preisverleihung,
bitte begrüßen Sie mit mir sehr herzlich die Preisträgerin 2024 des KasselerBürgerpreises „Das Glas der Vernunft“ Dr. Carolin Emcke! – (Applaus) –
Liebe Frau Emcke, es ist uns eine Ehre, Ihnen heute „Das Glas der Vernunft“ zuüberreichen!
Herzlich begrüßen möchte ich auch unsere Festrednerin Prof.Dr. Mirjam Zadoff und Prof. Dr. Martin Saar als Laudator!
Ich begrüße die Mitglieder der Findungskommission desKasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“!
Ich begrüße den Minister für Wissenschaft undForschung, Kunst und Kultur, Timon Gremmels, und den Oberbürgermeister derdocumenta-Stadt Kassel,
Dr. Sven Schoeller, die beide ein kurzes Grußwort zuuns sprechen werden!
Ich begrüße den Ehrenvorsitzenden der Gesellschaft derFreunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“, Prof.Dr. Hansjörg Melchior!
Ich begrüße die Schüler:innen und Studierenden, diegestern Nachmittag im Rahmen einer Zusammenarbeit des Kasseler Jugendsymposionsund der Universität Kassel im UNI:Lokal bereits mit Carolin Emcke diskutierthaben!
Zum Findungsprozess
Im Herbst letzten Jahres hat die Findungskommissiondes Preises dreimal getagt. Der Findungsprozess begann mit einem Blick in dieZeit. Jedes Mitglied umriss kurz, wo für sie oder ihn besondere Signaturensichtbar werden. Viele trieb die Sorge um, dass Grundwerte der Demokratie unddes gesellschaftlichen Miteinanders derzeit auf dem Spiel stehen.
Wenn schnelle Emotionen und oberflächliche Meinungenüberhandnehmen, wenn Hass nicht eingehegt, sondern ausgelebt wird, wennFalschinformationen gezielt eingesetzt werden, zerbricht und zerbröselt dieVernunft. Für die Vernunft einzutreten, heißt, ihre analytische Kraft zu nutzenund ernst zu nehmen – auch dann, wenn es persönlich fordernd wird.
Im Rückgriff auf Michel Foucault nennt Carolin Emckediesen Vorgang „wahrsprechen“. Ihr geht es um Aussagen, die nicht nur wahr,sondern auch wahrhaftig sind.
Die Findungskommission hat beeindruckt, wie CarolinEmcke mit diesem Anspruch in ihren Kolumnen, Essays und Büchern dem Hass entgegentritt.
Die Findungskommission hat sich für Carolin Emcke als Preisträgerin für „DasGlas der Vernunft“ 2024 entschieden, weil sie den demokratischen Kompassbesonnen ausrichtet, sie das Rückgrat der Demokratie beharrlich aufrichtet und zustärken versucht.
Zur Preisträgerin
Carolin Emcke ist Autorin und Publizistin. Viele derhier Anwesenden lesen ihre Kolumne in der Süddeutschen Zeitung regelmäßig undmit großem Interesse. Seit 20 Jahren kuratiert und moderiert sie den„Streitraum“ an der Schaubühne Berlin. 2016 wurde sie mit dem Friedenspreis desDeutschen Buchhandels ausgezeichnet - die Liste ihrer Preise ist lang.
Carolin Emcke arbeitete von 1999 bis 2014 alsinternationale Reporterin in Krisenregionen. Sie traf auf viele Menschen, dieGrausames erlebt und ihr Weltvertrauen verloren hatten. Das schreibend zubezeugen ist für Carolin Emcke eine fraglose Notwendigkeit.
Als Inhaberin der Wuppertaler Poetikdozentur fürfaktuales Erzählen 2023 präzisiert sie:
„Anders lässt sich für mich nicht sprechen und schreiben als mit dereingelassenen Erwartung, dass die Erfahrungen anderer überhaupt zählen, dasssie er-zählt [sic!] werden, weil sie als Menschen zählen, weil sie einAntlitz haben, das ähnlich oder unähnlich, aber human ist.“
Ein paar persönliche Worte, frei neben dem Rednerpult gesprochen
Mich hat sehr beeindruckt, wie Carolin Emcke auf das Antlitzder anderen zu sprechen kommt und es als Bezugspunkt wählt: Im Antlitz kommen dieMenschen in unmittelbarer Weise zum Ausdruck, sehen sie doch ihr Antlitz ohneSpiegel nie von außen. Das Antlitz ist der Teil des menschlichen Körpers, durchden wir uns in besonderer Weise als Mensch/menschlich zeigen – und das, ohneuns selbst wahrnehmen zu können.
In Situationen, in denen die offene Diskussion, derzwischenmenschliche Austausch wie weggespült wird, weil Klischees bedientwerden, weil die moralische Keule geschwungen wird oder weil schlichtwegpolemisch oder verroht aufgetreten wird, hat Carolin Emcke die unmittelbareAusdruckskraft des menschlichen Antlitzes vor sich. Das ist eine starke Vision.
Sie nennt das einen utopischen Vorgriff und erweitertdas zum utopischen Vorgriff auf ein universalistisches Wir.
Vorblick
Liebe Mitglieder, liebe Gäste,
das Thema Menschenwürde wird uns heute begleiten.Mirjam Zadoff wird es in ihrer Festrede in den Vordergrund stellen, meineStellvertreterin Barbara Ettinger-Brinckmann stellt sie vor.
Das Mara Quartett hat ein Motiv aus der Kunst der Fugefür 4 Geigen für die heutige Preisverleihung arrangiert. Carolin Emcke ist esein Anliegen, dass ein Thema nicht nur einmal anklingt, sondern immer wieder neubefragt wird und so – vielleicht – zur Kunst der Fuge wird. Die Musikerinnendes Mara Quartetts möchten das würdigen.
Die Laudatio hält Martin Saar. Er wird von Prof. Dr. HeidiMöller vorgestellt. Sie ist ebenfalls meine Stellvertreterin im Vorstand desTrägervereins.
Zunächst möchte ich den Minister für Wissenschaft undForschung, Kunst und Kultur, Timon Gremmels, und im Anschluss denOberbürgermeister der documenta-Stadt Kassel, Dr. Sven Schoeller, auf die Bühnebitten.
Ihnen allen eine schöne Preisverleihung!
Es ist mir eine Ehre, hier vor Ihnen zu stehen und eine Laudatio auf Carolin Emcke zu halten, in jeder Hinsicht. Carolin Emcke und das „Glas der Vernunft“, ja, dachte ich, das passt, und diesen Zusammenhang kann ich sogar ganz gut erklären, weil ich sie und ihr Schreiben ganz gut kenne, auch wenn man darüber gar nicht so gerne sprechen will in der Öffentlichkeit. Aber von Vernunft verstehe ich auch etwas, dies ist ja ein philosophisches Thema. Und noch etwas dachte ich und habe es nicht mehr aus dem Kopf bekommen seither: Laudatio kommt von lateinischen laus, dem Lob, natürlich, aber wenn man es einmal sagt, wird man es nicht mehr los, eine Laudatio, eine Laus, die springt und ein bisschen juckt. Carolin Emcke ehren und loben darf also auch ein bisschen springen und auf etwas hinweisen, was juckt und pickt und das nicht immer nur glatt oder eingängig, bequem und erwartbar ist.
Ich werde also versuchen, Ihnen etwas nahe zu bringen über eine Denk- und Schreibweise, einen Denk- und Schreibstil, der besonders und auszeichnenswürdig ist, und ihn auszuzeichnen ist es, was Sie, was wir hier heute tun, Und er hat tatsächlich mit dem großen, pathetischen, altmodischen Begriff Vernunft zu tun. Was meinen wir, wenn wir „Vernunft“ sagen, im professionellen oder akademischen und alltäglichen Gebrauch? Vernunft zeichnet üblicherweise das überlegte, das abgewogene Denken und Sprechen aus, das sich etwa im Umgehen mit Begriffen oder Prinzipien oder Definitionen ausdrückt, die Gesetzmäßigkeiten und Ursachen benennen. Man könnte es auch mit dem Wissen, dem Besser-Wissen, zusammenbringen, Rationalität, das Vernünftig-sein, verstehen wir oft so: es gibt die Vernünftigen und… die Anderen. Und man könnte denken, die Vernunft könnte man besitzen, haben, verkörpern, wie eine individuelle Eigenschaft.
Aber in diesem Wort und in seiner Begriffsgeschichte bleibt von Beginn an, wie im griechischen Wort logos, die schlichte Bedeutung der Rede und des Sprechens präsent. Vernunft ist, sie zeigt sich in der Rede, im Sprechen, sie ist immer schon (und muss es sein) eine kommunikative, gemeinschaftliche Praxis, mit mehreren Figuren, mindestens einer Sprecherin und ihren Zuhörern. In der zeitgenössischen Philosophie ist dieser Gedanke zentral geworden in verschiedenen Varianten, eine Formulierung dafür lautet: Vernunft entsteht und zeugt sich im Diskurs, und der wohl wichtigste Verfechter eines solchen diskursiven, kommunikativen Vernunftkonzepts ist der deutsche Philosoph Jürgen Habermas, trotz seines hohen Alters wohl der bekannteste und prominenteste lebende Philosophen weltweit.
Was hat das mit Carolin Emcke zu tun? Nun, bei Habermas hat sie in Frankfurt studiert und ihren Magisterabschluss gemacht, und sie hat die Wirkung und Brillanz dieser Theorie aus nächster Nähe erlebt, verfolgt und begleitet, sie hat früh gesehen, dass dies zugleich eine theoretische, philosophische Innovation ist: die Vernunft nicht von der Kompetenz und der Souveränität des einzelnen vernünftigen Subjekts her zu denken, sondern inter-subjektiv, gemeinschaftlich zu verstehen. Sie hat aber auch, denke ich, die fast noch größere außerwissenschaftliche Bedeutung dieser Vorstellung, ihre Bedeutung für Vollzüge des Denkens und Schreibens gesehen: Gültiges, verbindliches, verantwortungsvolles – vernünftiges – Denken und Schreiben ist kein einsamer, isolierter Akt, sondern eine Praxis mit und zwischen anderen, ein Denken und Schreiben, das sich nur mit den Anderen und nur in einer Adressierung an Andere verwirklichen kann. Vernünftig kann man nicht alleine sein.
Dies ist ein (viel zu) abstrakter Gedanke, aber ich denke, und so lese ich persönlich die Texte, Interventionen, Kommentare von Carolin Emcke, dass sie ihm eine Vielzahl ganz konkreter, involvierter und engagierter Ausdrucksformen gegeben hat. Ihre Bücher, Artikel und Vorträge sind Übungen in vernünftiger Rede oder vernünftigem Schreiben genau darin, dass sie vor Publikum, an Publikum gerichtet stattfinden, es mitdenken und einbeziehen; und was diese Texte an Angeboten an Gesichtspunkten, Interpretation und Kritik unterbreiten, sind Einladungen zum Zusammen-denken. Eine journalistische, essayistische, literarische Form, gewiss, aber eine durch und durch philosophische Praxis.Geben Sie mir die Freiheit, ein bisschen sprunghaft (wie die Laus), an drei Beispielen dieses Vernunft-Motiv, das in einem Denkstil und einer Schreib- und Sprechweise steckt, kurz zu illustrieren.
1.Sprechen-zu. Von den Kriegen. Briefe an Freunde ist das erste Buch von Carolin Emcke nach ihrer philosophischen Dissertation über Kollektive Identitäten, und der Untertitel sagt, was es ist, eine Briefesammlung, zusammengestellt aus den Reiseberichten in den Jahren ihrer Tätigkeit als Journalistin und Kriegs- und Krisenberichterstatterin für den SPIEGEL in den Jahren 1999-2003. Im Vorwort erklärt sie ziemlich genau, wieso sie diese Texte schreiben musste, neben den journalistischen Artikeln und Reportagen, die ja das professionelle Ziel der Reisen waren. Geschrieben hat sie diese Briefe (meistens natürlich Emails) für uns, die Freunde, zuhause, die nicht dabei waren, nicht verstehen konnten, nicht wussten, was dort zu sehen und zu erleben war und es schwer einordnen und verarbeiten konnten: „Wie sollte ich das Erlebte in Worte fassen, die sie nicht abschreckten? Wie diese Begegnung mit Tod und Zerstörung beschreiben? Wie sollte ich erklären, dass Krieg und Gewalt sich in uns einnisten? Meine Freunde wussten nicht zu fragen, und ich wusste nicht zu antworten.“ (Vonden Kriegen, S. 11) Die resümierenden, erzählenden Briefe sind ein Medium, um dies zu überbrücken, auch die Ignoranz, die Ungläubigkeit, das Verdrängen nicht gelten zu lassen, im Erzählen einen Raum zu schaffen auch für Trauer und Entsetzen, Wut und Scham.
Diese Briefe haben uns, den Freund*innen, und später den Leser*innen des Buchs, etwas mitgebracht und mitgeteilt, darin etwas geteilt, nicht nur vermittelt, uns nicht nur etwas gelehrt, sondern etwas zu denken und fühlen gegeben, mit dem man selbst etwas machen konnte und musste. Sie haben uns in etwas hineingezogen, wogegen man sich als Konsument medialer Berichterstattung doch so oft effektiv immunisiert. Die Ansprache, die Mitteilung dieser Briefe haben eine Gemeinschaft(lichkeit) hergestellt und damit tatsächlich einen kommunikativen Raum eröffnet, in dem mehr als belehrt wird. Dieses Sprechen mit all seiner Autorität der authentischen Erfahrung ist ein zugewandtes, adressiertes und adressierendes Sprechen. Diese vernünftige Rede ist wesentlich ein Sprechen-zu. Lassen Sie mich weiterspringen.
2. Sprechen-für. Die Phase der journalistischen Reisen und der Reportagen hat zu ganz bestimmten Texten geführt; die reflexive, kommentierende, explizit philosophierende Ebene hat sie aber immer auch schon begleitet, wie in den genannten Briefen. Sie ist in den längeren Reportagen und Reiseberichten enthalten, aber sie hat sich noch stärker entfaltet in den eher essayistischen, auch auf das eigene Arbeiten reflektierenden Texten, für die auch immer wieder Vorlesungsreihen oder Preise der Anlass waren, oft aber einfach nur der Wille, das eigene Tun und die eigene Rolle besser zu verstehen und Rechenschaft abzulegen über die eigenwilligen und prekären Positionen derer, die vom Leid der anderen erzählen. In vielen dieser Texte ist die Frage der Zeugenschaft zentral geworden, denn dies ist auch, was diese Texte tun: etwas bezeugen, was geschehen und widerfahren ist, aber denjenigen zugestoßen ist, die nicht selbst wirksam sprechen können, den Opfern extremer Gewalt, traumatisiert und misstrauisch, sprachlos oder verbittert, in ihrem eigenen Sprechen-können erschüttert und verkeilt.
Auch das empatische Zuhören und Aufschreiben versetzt die Berichterstatterin selbst in eine fast unerträgliche Position, und die reflexiven Texte über das Zeugnis-Ablegen notieren diese Widersprüche mit heller, fast quälender Ehrlichkeit: Wer hat das Recht, für andere zu sprechen, sich damit über ihre gut begründete Sprachlosigkeit zu erheben und vor allem über ihre Wahrnehmungen und Erfahrung zu urteilen, sie zu überführen in publikumskompatible, aber darin auch entpersonalisierte, neutrale Wahrheiten? Und liegt nicht etwas Obszönes, Schamloses in der Anmaßung, aus der Position der Unversehrten, Unverletzten, „Ungeprügelten“ (LiaoYiwu) vom Schmerz, Leiden und Verstummen der anderen zu erzählen? DieserZweifel ist nicht auszuräumen, vielleicht noch nicht einmal auszuhalten, ihmist aber Raum zu geben in der Erzählung, im Bericht.
Das Leiden verpflichtet zum Erzählen, die Zeugin ist dies ihren Gesprächspartnerinnen schuldig; das Zeugnis-ablegen reagiert auf eine Dringlichkeit, die man nur annehmen oder verweigern kann, man wählt oder definiert sie nicht, sie kommt von der, von dem Anderen.
Das sachhaltige, verantwortungsvolle, vernünftige Sprechen im Angesicht der Gewalt und des Verstummens kann nicht das souveräne, neutrale Sprechen einer Einzelnen sein, es muss denen verpflichtet und verhaftet bleiben, von denen es spricht, darin voller „Brüche und Lücken“,„beweglich … unfertig … zeitoffen“ (Weil es sagbar ist, S. 109), ein Hin und Her zwischen ganz ungleichen, heterogenen Partnern, die sich nicht einig sind, sich nicht treffen in einer geteilten Intention, sondern in einer Verpflichtung, die daran bindet weiterzusprechen. Auch das ist ein Bild von Vernunft und von vernünftigem Sprechen: ein sich-Aussetzen. Das Sprechen-für, das Vernunft auch ist, ist nichts, was man alleine und von alleine tun kann, es antwortet auf die Anderen, es nimmt Verantwortung an, die ihr nur von den Anderen gegeben werden kann. Diese Vernunft gibt es nur im Angesicht der Anderen.
3.Sprechen-mit. Die Texte sprechen zu jemandem (ohne ihn zu belehren), und sie sprechen für jemanden (ohne an seiner statt zu sprechen), aber das Schreiben und weitere journalistische Wirken von CarolinEmcke gehen sogar noch weiter in Richtung einer gemeinschaftlichen Praxis, in der sich Vernünftiges einstellt im Teilen, im Zusammensprechen. Seit etlichen Jahren sucht und findet sie über die Formate der Bücher, Artikel, Kolumnen und öffentlichen Reden und Vorträge hinaus Formen der Einbindung und Verwebung von Perspektiven, der Einladung und kommunikativen Gastgeberschaft, die ihresgleichen suchen.
Der „Streitraum“, den sie seit nunmehr 25 Jahren an der Berliner Schaubühne ausrichtet an Sonntagvormittagen, ist eine solche Form, in der, wenn es gelingt, und es gelingt erstaunlich oft, in einem freundschaftlich und verbindlich moderierten Gespräch Expert:innen aus Wissenschaft, Kultur und Politik ihre Beiträge zu den drängenden Themen der Zeit einbringen können, verstrickt werden in Nachfragen, Weiterführen und Bezweifeln, Weiterdenken und gemeinsam Weitersuchen nach Lösungen, wo es scheinbar so wenig gibt bei den großen Problemen (wie in den Veranstaltungen zumGaza-Konflikt, zum NSU, sexueller Selbstbestimmung, Gewalt, Toleranz, Diskriminierung, Antisemitismus, Rassismus, Klimapolitik, Öffentlichkeit, Aufklärung u.v.m.).
Und das Berliner Publikum macht auch mit. Zweierlei ist hier bemerkenswert: der große Respekt vor spezifischer Expertise, einschlägigen Erfahrungen und Betroffenheit einerseits, d.h. vor der Tatsache, dass es bei bestimmen Themen sinnvoll ist, zuerst bestimmte Stimmen zu hören. Andererseits herrscht hier aber eine egalitäre, offene Atmosphäre des Austauschs, der Rückfrage und des Einwands, selbst die Expertinnen müssen sich bewähren und ihre argumentative Autorität beweisen, hier hat niemand im Vorhinein recht.
Das könnte nach Talkshow wirken, ist es aber gerade nicht (oder höchstens eine sehr gute Talkshow). Denn hier wird nicht künstlich nach Ausgewogenheit oder Pro und Contra gesucht, sondern von den Gegenständen, Erfahrungen, Problemen selbst hergesprochen und, ja, manchmal auch, gestritten. Aber auch hier trägt eine Vernunftorientierung, ein Sachhaltigkeitsgebot, die Diskussionen, auch dies ist eine kommunikative Praxis, die auf eine Art von Übereinkunft und Ergebnis zielt, die sich erst im Gespräch herstellt und zu der die Einzelnen beitragen, die sie aber nicht bestimmen, nicht in der Hand haben. (Dies hängt natürlich auch an Tagesform und den Nerven der Teilnehmenden, aber es kann magisch sein, schauen Sie sich die Videos an.)
Es wäre sträflich untertrieben, Carolin Emcke hier nur als Moderatorin zu sehen, sie ist viel mehr (und es ist harte Arbeit), sie ist Kuratorin, Gastgeberin, Ideengeberin, Vermittlerin. Auch hier möchte ich den Arbeitsstil hervorheben, der eine Denkweise widerspiegelt, in der Etliches zusammenkommen muss, damit man einer Sache, einem Problem, einer Sorge gerecht wird, und das heißt auch: mehrere Mitdenkende, Beitragende. Dies auf der Bühne vor Publikum vorzuführen, bedarf einer Kunst der Gesprächs- und Gedankenführung, die viele nur für sich Schreibende oft ja gar nicht haben. Wie sehr uns solche Anlässe und Erlebnisse gefehlt haben, ist vielen von uns nicht zuletzt in der Pandemiezeit aufgefallen. Es war, soweit ich weiß, nicht der einzige Anstoß, aber ein wichtiger, hier über medientechnische Möglichkeiten zur Abhilfe nachzudenken. Und nicht zuletzt dafür hat sie 2023 in Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung ihren Podcast „In aller Ruhe ins Leben gerufen“, von dem inzwischen mehr als 35 Folgen produziert sind (mit Omri Boehm, Karl Schlögel, Lisa Neubauer, Charlotte Knobloch und vielen anderen). Anzuhören sind enorm intime, konzentrierte Gespräche, in denen viel Zeit und Ruhe für die Entwicklung von Standpunkten, das Teilen von Erfahrungen, aber auch Selbsthinterfragungen und spekulativen Prognosen vorhanden ist.
Und auch hier sehe ich das Motiv am Werk, dem ich hier als kleine Laus sprunghaft auf der Spur bin: Wie denkt, wie schreibt, wie arbeitet Carolin Emcke und wieso ist dies eine Vernunftarbeit? In diesem dialogischen Gespräch kommen Dinge und Ansichten zusammen, reiben und reizen sich, erzeugen ein Drittes, Gemeinsames. Sprechen-mit, engagiert undverbindlich, ist hier eine Arbeit der Vernunft. [Übrigens: Carolin Emcke ist auch als Interviewte bestechend. Lesen Sie: Für den Zweifel. Gespräche mit Thomas Strässle, 2022 bei Fischer erschienen.]
Ich darf Sie aber beruhigen: der Schritt auf die Bühne und hinter das Podcast-Mikrophon und das Austesten der medialen Formen und Formate ist bei Carolin Emcke nur ein temporärer Schritt weg vom Schreibtisch, sie bleibt eine schreibend Denkende. Auch in ihren letzten Texten bleibt die Frage, wie wir als demokratische Gemeinschaft zusammen die drängenden Probleme unserer Zeit angehen können, eine zentrale Herausforderung auch für jede/n Einzelnen, der sich um diese Gemeinschaft sorgt. In den Texten zur Klimapolitik, oder auch: der fehlenden Klimapolitik, wird dies derzeit sicher am plastischsten. Unsere politischen Blockaden sind, schreibt sie, auch Blockaden der Imagination, der Sensibilität und des Muts zum Handeln, aber all dies sind kollektive, gemeinschaftliche Probleme, aus der keine isolierte Autorität und keine Besserwisserei von Einzelnen herausführen, sondern nur: gemeinsames Nachdenken, Phantasieren, Verantwortung übernehmen, Vernünftigsein. Kann dies gelingen, heute? Als aufmerksamer Leser fürchte ich, dass Carolin Emcke hier derzeit, wie wir wohl alle, etwas skeptischer, etwas düsterer ist. Vielleicht ist das Glas der Vernunft derzeit wirklich etwas beschlagener, eingetrübter als noch vor einigen Jahren; und vielleicht schien uns dieses Glas selten so zerbrechlich.
Aber ich weiß, in wessen Hände man ein so fragiles Gut zumindest symbolisch geben kann, weil sie um diese Fragilität weiß, und weil sie weiß, dass man dieses Gut nie als einzelne besitzen kann. Ich gratuliere Carolin Emcke ganz herzlich zu diesem Preis.
Zur Info: Eine Audio-Datei mit der Laudatio von Prof. Dr. Martin Saar und mit der Erwiderung durch die Preisträgerin Dr. Carolin Emcke ist über den oben stehenden Link abrufbar: → hr2-kultur vom 8.10.2024
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Wilfried Sommer,
sehr geehrte Mitglieder der Findungskommission undder Gesellschaftder Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises,
sehr geehrte Frau Dr. Carolin Emcke,
eine Generation ist die Gesamtheit aller Lebewesen, die zu anderen Lebewesen durch Abstammung verbunden sind und im selben Abstand stehen. In Deutschland beträgt dieser Abstand zur zeit ca. 30 Jahre. Das Glas der Vernunft wird jährlich und heute zum 33. Mal verliehen.
Genealogisch gehört das Glas der Vernunft daher zur letzten - ich meine - zur vergangenen Generation. Die Betagtheit des Preises, wenn ich das so sagen darf, gibt Anlass zu einer ehrlichen und ungeschönten Analyse über die Existenzberechtigung dieses Formats.
Das Urteil, meine Damen und Herren, ist schnell gefunden und so eindeutig, dass es in ein Grußwort passt: Legen wir als Maßstab für vernünftiges Handeln nur mal den kategorischen Imperativ Immanuel Kants an. Gott habe ihn selig, er wäre in diesem Jahr 300 Jahre alt geworden und sicher auch ein willkommener Preisträger gewesen. Ehrlicherweise aber: So richtig gezündet hat seine Idee mit dem Handlungsleitsatz, der die Befähigung zuma llgemeinen Gesetz mitbringt, bei der Menschheit ja nie so richtig. Irgendwas ist in uns, das stärker als Vernunft ist.
Und es zeichnet sich gerade in der jüngeren Vergangenheit international, wie national ab, dass der Kurs der Vernunft im freien Fall ist. So sehr, dass es jedenfalls meine persönliche Vorstellungskraft reichlich strapaziert.
Ich bin jetzt Anfang 50 – in der Ölkrise das Licht der Welt erblickt. Und ich hätte mir niemals vorstellen können,
o dass in unserer Republik - mit unserer Historie - Haltungen mehrheitsfähig werden können, die offen die Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund fordern;
o dass wir - nach allem, was wir in diesem Land erlebt haben - den Rechtsextremisten und -populisten nochmal so auf den Leim gehen, indem wir, statt deutlich zu widersprechen, ihnen hinterherlaufen und leichthändig mit den offenen Grenzen Europas eine der größten Errungenschaften der Nachkriegszeit aufs Spiel setzen.
o Das liegt ganz auf der Linie des Mauerbauers aus den Vereinigten Staaten, der sich anschickt, zum zweiten Mal Präsident werden zu wollen. Nach allem, was der so angestellt hat … Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein Bewerber um das Amt des „Leaders of the free world“ in einem TV-Duell zur besten Sendezeit vor einem Millionenpublikum hassschürende Lügen über Migranten verbreitet, die sich angeblich von den Haustieren ihrer Nachbarn ernähren.
Und damit, meine Damen und Herren, ist doch eines völlig klar:
o Vernunft ist in unserer Zeit eine Haltung von inkomparabler und exquisiter Seltenheit.
o Die Protagonistinnen und Protagonisten der Vernunft sind die Helden unserer Zeit. Sie sind die Jäger des verlorenen Schatzes. Sie sind aller Ehren würdig. Wenn es das Glas der Vernunft noch nicht gäbe, man müsste es heute erfinden.
Bevor wir gleich die Laudatio auf die würdige Preisträgerin hören, möchte ich deshalb mal ein Lob an die Kasseler Bürgerschaft ausbringen. Denn es ist ein Preis der Kasseler Bürgerschaft. Und gerade in einer Zeit, in der die Demokratie auch deshalb unter Druck gerät, weil es denjenigen, die Verantwortung tragen, offenkundig immer schwerfällt,sich „vernünftig“ zu einigen, ist hervorzuheben, dass es der Jury dieses Bürgerpreises nunmehr zum 33. Mal gelungen ist, im intensiven Dialog zu einer konsensualen Entscheidung zu kommen und dabei einmal mehr ein wichtiges Ausrufezeichen in der richtigen Zeit zu setzen. Eines, das Gewicht hat und im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren große Beachtung findet.
Zum Beispiel auch in der Hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden: Lieber Herr Minister Gremmels, wir, die Kasseler Bürgerschaft, haben erfreut vernommen, dass die letztjährige Preisträgerin Natalie Amiri nun auch den Walter-Lübcke-Demokratiepreis des Landes Hessen erhalten wird – übrigens ebenso wie die Initiative „Offen für Vielfalt“.
Ja, meine Damen und Herren, das bürgerschaftliche Engagement in unserer Stadt und Region ist beispielgebend! Für dieses herausragende Engagement der Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt sage ich an dieser Stelle einen ganz besonders herzlichen Dank!
Wir haben heute die große Ehre, die diesjährige Preisträgerin Dr. Carolin Emcke auszuzeichnen. Liebe Frau Emcke, gemeinsam mit der Intention des Bürgerpreises „Glas der Vernunft“ ist es Ihnen, den Idealen der Aufklärung folgend Werte wie Vernunft und Toleranz weiterzugeben und sich für Freiheit, Menschlichkeit und Frieden einzusetzen.
Sie lassen uns an Ihren klugen Gedanken regelmäßig in der Süddeutschen Zeitung teilhaben. Ein Medium, das Qualitätsjournalismus aus München in die restliche Republik verbreitet.
Das gibt mir Anlass, auf einen markanten Unterschied der Städte München und Kassel hinzuweisen, der sich jedes Jahr wiederholt genau zu dieser Jahreszeit beobachten lässt:
o Der Münchener Oberbürgermeister sitzt in einem Bierzelt und hebt eine Maß Bier.
o Der Kasseler Oberbürgermeister steht in einem Staatstheater auf den Brettern, die die Welt bedeuten, und hebt das Glas der Vernunft!
Und ein Glas der Vernunft - darauf möchte ich abschließend noch hinweisen - konnte von seinem Preisträger aus - sagen wir mal - juristischen Gründen bislang noch nicht abgeholt werden. Es handelt sich um das Glas der Vernunft, das 2016 an Edward Snowden verliehen wurde. Es wurde bislang im Kasseler Stadtmuseum verwahrt, wo es aus profanen Gründen nicht mehr bleiben kann. Wir haben daher entschieden, dass es künftig im Rathaus seinen Platz finden soll, bis Herr Snowden eines Tages mit freiem Geleit oder gar als freier Mann es hoffentlich in Empfang nehmen kann.
Herzlichen Dank dem Verein Gesellschaft der Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises Glas der Vernunft, Ihnen allen, den Bürgerinnen und Bürgern Kassels als Stifterinnen und Stiftern des Preises, sowie der Findungskommission für ihre verantwortungsvolle, wichtige und engagierte Arbeit.
Liebe Gäste, das wird ein bewegender Tag, ein Tag,an dem wir aus unserer Stadt einmal mehr Impulse in unser Land und unsere Gesellschaft senden!